'Kindchen, wir sehen uns nie wieder.'

14:39:00

Gibt es etwas Schlimmeres, als etwas zu bereuen, dass man nicht getan hat und von dem man weiß, dass man nie wieder die Chance haben wird es zu tun? Seit ich 2013 nach Frankfurt gezogen bin, wollte meine Oma mich besuchen kommen. Sie wollte die Stadt sehen, sehen wie ich wohne, wie ich lebe. Sie wollte sehen wie es mir geht. Wir haben nie den richtigen Zeitpunkt gefunden und dann wurde sie krank. Wie krank gestand ich mir selbst lange nicht ein. Letztes Jahr war ich kaum zu Hause. Besonders in der zweiten Hälfte des Jahres kam immer etwas dazwischen. Ich hatte einen neuen Job angefangen bei dem ich viel an den Wochenenden arbeitete und irgendwie war immer eine andere Ausrede im Weg. „Keine Zeit“ war die häufigste. Ich hätte Zeit finden können. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, ich hätte Zeit gefunden.

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Als ich meine Oma Weihnachten wiedersah, traf mich ein kleiner Schlag. Sie hatte so unheimlich viel abgenommen. Ich erkannte sie kaum wieder. Wir feierten den zweiten Weihnachtsfeiertag in ihrer Küche, mit meiner Cousine und deren Kindern. Der Tag war wundervoll. Laut den Ärzten wäre der Krebs so gut wie besiegt. Nur im Darm wäre noch ein kleiner Punkt, den man aber mit einem kleinen Eingriff behandeln könnte. Nur ein Punkt und daran glaubte ich mit aller Kraft. Als ich im Februar wiederkam, war sie gerade wieder ins Krankenhaus eingeliefert worden. Es ging ihr nicht gut. Sie hatte große Schmerzen und seit Wochen kaum noch etwas gegessen. Ich fuhr mit meiner Mutter und meiner Schwester ins Krankenhaus. Meine Mutter hatte einen Termin mit dem behandelnden Arzt ausgemacht und wir waren eine Zeit lang alleine mit unserer Oma. Sie wusste es. Auch wenn niemand so deutlich mit ihr darüber gesprochen hatte, wusste sie wie schlimm es aussah. Der Krebs hatte gestreut und beinahe sämtliche Organe befallen. Am schlimmsten war ihr Bauchraum. Der war voller Tumoren und verursachte die meisten Schmerzen. An dem Tag meinten die Ärzte zum ersten mal, dass sie nichts mehr tun konnten. Ich weigerte mich immer noch daran zu glauben. Ich fuhr direkt nach dem Krankenhaus zu einer Freundin, mit der ich mich schon verabredet hatte, bevor klar war, welche Wendung der Tag nehmen wurde. Vor lauter Tränen konnte ich die Straße kaum sehen und verpasste meine Abfahrt. Ich war fast froh darüber. Es war längst dunkel geworden und regnete. Ich fuhr auf den nächstbesten Autobahnparkplatz und blieb dort fast eine Stunde lang stehen, während der Regen auf das Autodach donnerte. Erst dann gingen mir die Tränen aus.
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Anfang März hatte ich wieder Urlaub und Pläne nach Hause zu fahren. Ich war noch in Frankfurt, als meine Mutter anrief und mir mitteilte, dass sie meine Oma am nächsten Tag ins Hospiz fahren würden. Mir zog es buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. In Hospize gehen Menschen um zu sterben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer noch die Hoffnung gehabt es gäbe doch noch Möglichkeiten sie zu behandeln. Vor lauter Tränen brachte ich kein Wort mehr heraus und meine Mutter legte mit den Worten „Die Verbindung ist so schlecht. Schatz, ich ruf gleich nochmal an“, auf. Als das Telefon keine Minute später wieder klingelte, war ihr wohl klargeworden, dass unsere Verbindung nicht das Problem war. „Dir geht es nicht so gut, oder?“, war ihr erster Satz als ich den Anruf annahm. Ich brach sofort wieder in Tränen aus. Den Rest des Telefonats schluchzte ich ins Telefon, während sie ruhig auf mich einredete und versuchte mich zu beruhigen. Ich hatte selten so viel Heimweh, wie in dieser Zeit. Ich musste am nächsten Tag noch einen Tag lang arbeiten, bevor mein Urlaub begann und mein Vater bot mir an mich direkt von der Arbeit abzuholen und nach Hause zu holen. Er fuhr fast 500 Kilometer, nur weil er sich so Sorgen machte. Die Woche zuhause war ein Geschenk und furchtbar hart zu gleich. Ich besuchte meine Oma jeden Tag im Hospiz und wir führten Gespräche, die ich nie vergessen möchte. Die Schmerzmittel machten es schwer einzuschätzen, wie es ihr wirklich ging. Gleichzeitig fühlte sich alles furchtbar unwirklich an. Wir räumten ihre Wohnung aus, weil klar war, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren würde. Während Dinge in ihrem Willen an Familienmitglieder verteilt oder aussortiert wurden, stand ich daneben und versucht meine Gefühle zu sortieren. Das alles fühlte sich nicht richtig an. Mein Herz dachte immer noch, sie würde wieder gesundwerden und all ihre Sachen später noch brauchen.
Am letzten Tag meines Urlaubs unterhielten wir uns noch einmal relativ lange. Sie war vollkommen klar und wirkte fast fit. Ihre letzten Worte an mich waren „Kindchen, wir sehen uns nie wieder“ und ich stand da, wie ein Schluck Wasser in der Kurve und kämpfte um Fassung, während ein Teil von mir sich sicher war, sie würde nächsten Monat bei meinem nächsten Urlaub noch da sein. Ich war keine drei Tage zuhause, hatte gerade mal eine Schicht gearbeitet, als mein Vater morgens anrief und mir mitteilte, dass sie in der Nacht verstorben war. Aus „nur einem kleinen Punkt“, war also erst „sie hat noch Monate aber kein Jahr mehr“ und letztendlich nicht mal ein Monat geworden.
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Zum ersten mal seit Wochen fühlte ich gar nichts. Ich griff meinen Koffer, den ich noch nicht mal ausgepackt hatte, stopfte fahrig das erste schwarze Kleid dazu, dass ich in die Hände bekam und buchte den nächstbesten Zug ins Allgäu. Noch von der Straßenbahn aus rief ich auf der Arbeit an und entschuldigte mich für meine Schichten am Wochenende, informierte meinen Freund darüber, was geschehen war und saß keine Stunde nach dem Anruf meines Vaters im ICE. Ich war wie gelähmt. Der Zug schien viel zu langsam zu fahren und jeder war viel zu laut. 
Plötzlich lief ein kleines Mädchen den Flur entlang. Etwa drei Jahre alt, kurze braune Zöpfchen und das breiteste Grinsen des Äquators. Sie lächelte mich an, begrüßte mich und lief dann an mir vorbei, um jede andere Person in diesem Zug auch noch zu begrüßen. Genauso wie meine Oma mich immer beschrieben hatte, wenn sie von unserer gemeinsamen Zugfahrt vor unzähligen Jahren erzählt hatte. In dem Moment trafen mich meine Gefühle wie eine Wand. Mit dem Gesicht zum Fenster gewandt weinte ich von Frankfurt bis fast Ulm. Ich saß schon im Regionalzug Richtung Allgäu, als meine Mutter mich anrief und fragte, ob mich jemand in Frankfurt abholen sollte. Als sie erfuhr, dass ich schon fast da war, bot sich mir an, meine Oma nochmal im Hospiz zu besuchen, aber ich lehnte sofort ab. Ich wollte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Einen saloppen Spruch auf den Lippen, selbst in einer Lage wie ihrer. Sie ist am 16. März gestorben und seitdem ist jeden Tag irgendetwas passiert, von dem ich ihr gerne erzählt hätte. Es stimmt wohl doch.

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“You can love someone so much, but you can never love people as much as you can miss them.”- John F. Green
Wir hätten Zeit finden müssen, ihr Frankfurt zu zeigen.

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