Die Grundschulzeit war für mich alles
andere als ein Spaziergang. Ich war wie Ferdinand der freundliche Stier. Eines dieser Kinder, die immer versuchen es allen recht zu
machen und zu allen freundlich zu sein. Die schüchterne und stille
Sorte, die gerne Geschichten und Gedichte geschrieben hat und der es
schwer viel sich in einer Gruppe zurecht zu finden und vor allem, für
sich selbst einzustehen. In meinem Jahreszeugnis der dritten Klasse
stand sogar der Satz „Franziska ist eine sehr nette und zugängliche
Schülerin, die sich Mitschülern gegenüber stets hilfsbereit und
freundlich verhielt“. Ich weiß, dass dieser Satz positiv gemeint
war, aber für mich hat er bis heute einen sehr bitteren
Nachgeschmack.
Die Grundschule bestand für mich aus vier Jahren
Angst. Ich hatte so viele fiese Spitznamen, dass ich auf meinen
echten Namen fast nicht mehr reagiert habe, einfach weil er so selten
fiel. Ich hatte überall blaue Flecken, weil ich jede Pause von einer
Gruppe Jungs über den Pausenhof gehetzt worden bin, die wenn sie
mich erwischt haben auf mich eingetreten haben. Ich habe Pausen
generell gehasst. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe mich auf
der Schultoilette zu verstecken, dann aber von einem Lehrer erwischt
und rausgeworfen worden bin. „Stell dich nicht so an, frische Luft
tut dir gut!“. Ich verstehe bis heute nicht, warum die Lehrer nie
etwas unternommen haben. Wie oft muss ein Kind in deiner Klasse
während dem Unterricht in Tränen ausbrechen, bis du merkst, dass
hinter deinem Rücken mehr vor sich geht, als du siehst? Leise sein,
untertauchen, nicht auffallen. Vielleicht lassen sie dich dann in
Ruhe. Das war meine Strategie. Ich war nie mutig genug mich zu
wehren und ich dachte ohnehin, dass ich es wahrscheinlich verdiene.
So denken Kinder nun mal.
Ich kam in die vierte Klasse. Meine
kleine Schwester wurde eingeschult. Das Mobbing war gerade in dieser
Zeit besonders schlimm und ich absolut fertig mit der Welt. Die Pause
ging gerade zu Ende und wir hatten in der nächsten Stunde Sport. Die
Halle stand auf unserem Pausenhof und eine kleine Steintreppe führte
nach oben. Vielleicht sechs Stufen. Ich stand oben auf der Plattform,
lehnte am Treppengeländer und schaute über den Schulhof meiner
Schwester hinterher, die gerade Richtung Schulhaus lief. Sie wurde
von Freunden begleitet und drehte sich kurz zu mir um. Darin erinnere
ich mich noch ganz genau. Im nächsten Moment stieß mich dieser
Junge, der mit dem ich die größten Probleme hatte, die Treppen
runter.
Es waren nur sechs Stufen, aber ich landete furchtbar unsanft
auf dem Teer, das Gesicht voran. Und so blieb ich eine ganze Weile
liegen. Ich versteckte mein Gesicht zwischen meinen Armen, weil ich
nicht wollte, dass mich irgendjemand weinen sah. Ich versuchte das
Lachen meiner Klassenkameraden zu ignorieren, als ich plötzlich ihre
Stimme hörte. Sie klang furchtbar panisch und weinte noch schlimmer
als ich, aber da war noch etwas ganz anderes in ihrer Stimme:
Unheimliche Wut. Ich sah auf und sah meine kleine, wunderbare und vor
allem furchtbar mutige Schwester vor besagtem Jungen stehen, sie
mindestens einen Kopf kleiner als er. Sie schrie ihn an, stellte ihn
zur Rede und stieß ihn dabei mit beiden Händen von sich weg. Mit
diesen furchtbar kleinen Händen.
Ich glaube in dem Moment hat
irgendetwas in mir klick gemacht. Das hier war falsch. Ich sollte sie
beschützen und nicht anders herum. Ich sollte ihr ein Vorbild sein
und nicht mit eingezogenem Kopf alles über mich ergehen lassen. Der
Junge hatte den ersten Schock inzwischen überwunden und wurde jetzt
richtig wütend. Zwei andere achsomutige Jungen kamen ihm zur Hilfe,
wohl aus Angst er würde mit einem drei Jahre jüngeren Mädchen
nicht alleine fertig werden. Sie stand da mit ihren wirren blonden
Locken, die Hände zu Fäusten geballt und Tränen über das Gesicht
laufend. Trotzdem wirkte sie entschlossen. Sie wusste nicht, wie grob
diese Jungen werden konnten. Ihr hatte noch nie jemand wirklich weh getan
und plötzlich bekam ich furchtbare Angst, dass sich das heute
ändern könnte. Also stand ich endlich auf, lief zu ihr rüber,
schob mich vor sie und gab zum ersten mal in über drei Jahren
wirklich Konter. Ich stieß ihn weg. Von ihr. Von mir. Von uns
beiden. Die Entschlossenheit in seinen Augen bröckelte für einen
kurzen Moment, aber es reichte mir um es zu bemerken. Es reichte mir um
zu erkennen, dass ich eben doch etwas tun kann.
In diesem Moment
kam unsere Lehrerin nach draußen und beendete die Situation. Mehr
passierte nicht, aber trotzdem hat sich an diesem Tag einiges
geändert. Ich kann nicht behaupten, dass ich von einem Tag auf den
nächsten ein anderer Mensch wurde. Das geschah langsam, aber mit
jedem mal, bei dem es mir gelang mich selbst oder jemand anderen zu
verteidigen, wurde ich eine Spur selbstbewusster, eine Spur mutiger.
Und je selbstbewusster und mutiger ich wurde, desto schwieriger wurde
es für diese Kinder, mir etwas anzuhaben. Bis heute habe ich einen
unglaublich starken Beschützerinstinkt und Gerechtigkeitssinn. Wenn
ich später während meiner Zeit auf dem Gymnasium Mobbing in den
unteren Klassen mitbekommen habe oder von Kinder deswegen
angesprochen wurde, wenn Freunde von mir untereinander Streit hatten
oder Kollegen von mir, dann fiel und fällt es mir unheimlich schwer
nichts zu tun. Genau so geht es mir bei Vorurteilen oder dummem
Gerede gegenüber Fremden oder bestimmten Personengruppen. Ich mische
mich oft in Dinge ein, die mich eigentlich nichts angehen. Weil sie
mich eben irgendwie doch etwas angehen. Been there. Done that.
Da war
es eigentlich kein Wunder, dass ich irgendwann beschlossen habe
Pädagogik zu studieren. Ich möchte mit Menschen arbeiten. Ich
möchte ihnen dabei helfen, Konflikte zu lösen, die sie selbst für
unüberwindbar halten und zwar indem ich ihnen helfe sich selbst zu
helfen. Deswegen wäre es auch mein absoluter Traum irgendwann
Therapeutin zu werden. Und bis dahin gibt es unheimlich viele andere
Dinge, die ich als Pädagogin tun kann.
Ich glaube ich wäre nicht
der Mensch der ich heute bin, wenn meine Schwester nicht wäre. Sie
war das ultimative Geschenk meiner Eltern an mich. Eine große
Schwester zu sein, mit all den Gefühlen, die dazu gehören- der
Angst, der ständigen Sorge um die andere, der Eifersucht, aber vor
allem dieser unheimlich starken Verbindung und Liebe- hat meinen
Charakter mehr geprägt, als alles andere. Weil sie mir beigebracht
hat, dass es Menschen und Dinge gibt, für die es sich lohnt sich
einzusetzen, auch wenn man manchmal viel dafür riskiert. Auch wenn
man manche Kämpfe verliert oder gar nicht erst gewinnen kann.
- 07:30:00
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