Ferdinand der Stier oder wie meine Schwester mir beibrachte mutig zu sein. #StorySaturday

07:30:00


Die Grundschulzeit war für mich alles andere als ein Spaziergang. Ich war wie Ferdinand der freundliche Stier. Eines dieser Kinder, die immer versuchen es allen recht zu machen und zu allen freundlich zu sein. Die schüchterne und stille Sorte, die gerne Geschichten und Gedichte geschrieben hat und der es schwer viel sich in einer Gruppe zurecht zu finden und vor allem, für sich selbst einzustehen. In meinem Jahreszeugnis der dritten Klasse stand sogar der Satz „Franziska ist eine sehr nette und zugängliche Schülerin, die sich Mitschülern gegenüber stets hilfsbereit und freundlich verhielt“. Ich weiß, dass dieser Satz positiv gemeint war, aber für mich hat er bis heute einen sehr bitteren Nachgeschmack. 

Die Grundschule bestand für mich aus vier Jahren Angst. Ich hatte so viele fiese Spitznamen, dass ich auf meinen echten Namen fast nicht mehr reagiert habe, einfach weil er so selten fiel. Ich hatte überall blaue Flecken, weil ich jede Pause von einer Gruppe Jungs über den Pausenhof gehetzt worden bin, die wenn sie mich erwischt haben auf mich eingetreten haben. Ich habe Pausen generell gehasst. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe mich auf der Schultoilette zu verstecken, dann aber von einem Lehrer erwischt und rausgeworfen worden bin. „Stell dich nicht so an, frische Luft tut dir gut!“. Ich verstehe bis heute nicht, warum die Lehrer nie etwas unternommen haben. Wie oft muss ein Kind in deiner Klasse während dem Unterricht in Tränen ausbrechen, bis du merkst, dass hinter deinem Rücken mehr vor sich geht, als du siehst? Leise sein, untertauchen, nicht auffallen. Vielleicht lassen sie dich dann in Ruhe. Das war meine Strategie. Ich war nie mutig genug mich zu wehren und ich dachte ohnehin, dass ich es wahrscheinlich verdiene. So denken Kinder nun mal.



Ich kam in die vierte Klasse. Meine kleine Schwester wurde eingeschult. Das Mobbing war gerade in dieser Zeit besonders schlimm und ich absolut fertig mit der Welt. Die Pause ging gerade zu Ende und wir hatten in der nächsten Stunde Sport. Die Halle stand auf unserem Pausenhof und eine kleine Steintreppe führte nach oben. Vielleicht sechs Stufen. Ich stand oben auf der Plattform, lehnte am Treppengeländer und schaute über den Schulhof meiner Schwester hinterher, die gerade Richtung Schulhaus lief. Sie wurde von Freunden begleitet und drehte sich kurz zu mir um. Darin erinnere ich mich noch ganz genau. Im nächsten Moment stieß mich dieser Junge, der mit dem ich die größten Probleme hatte, die Treppen runter. 

Es waren nur sechs Stufen, aber ich landete furchtbar unsanft auf dem Teer, das Gesicht voran. Und so blieb ich eine ganze Weile liegen. Ich versteckte mein Gesicht zwischen meinen Armen, weil ich nicht wollte, dass mich irgendjemand weinen sah. Ich versuchte das Lachen meiner Klassenkameraden zu ignorieren, als ich plötzlich ihre Stimme hörte. Sie klang furchtbar panisch und weinte noch schlimmer als ich, aber da war noch etwas ganz anderes in ihrer Stimme: Unheimliche Wut. Ich sah auf und sah meine kleine, wunderbare und vor allem furchtbar mutige Schwester vor besagtem Jungen stehen, sie mindestens einen Kopf kleiner als er. Sie schrie ihn an, stellte ihn zur Rede und stieß ihn dabei mit beiden Händen von sich weg. Mit diesen furchtbar kleinen Händen.

Ich glaube in dem Moment hat irgendetwas in mir klick gemacht. Das hier war falsch. Ich sollte sie beschützen und nicht anders herum. Ich sollte ihr ein Vorbild sein und nicht mit eingezogenem Kopf alles über mich ergehen lassen. Der Junge hatte den ersten Schock inzwischen überwunden und wurde jetzt richtig wütend. Zwei andere achsomutige Jungen kamen ihm zur Hilfe, wohl aus Angst er würde mit einem drei Jahre jüngeren Mädchen nicht alleine fertig werden. Sie stand da mit ihren wirren blonden Locken, die Hände zu Fäusten geballt und Tränen über das Gesicht laufend. Trotzdem wirkte sie entschlossen. Sie wusste nicht, wie grob diese Jungen werden konnten. Ihr hatte noch nie jemand wirklich weh getan und plötzlich bekam ich furchtbare Angst, dass sich das heute ändern könnte. Also stand ich endlich auf, lief zu ihr rüber, schob mich vor sie und gab zum ersten mal in über drei Jahren wirklich Konter. Ich stieß ihn weg. Von ihr. Von mir. Von uns beiden. Die Entschlossenheit in seinen Augen bröckelte für einen kurzen Moment, aber es reichte mir um es zu bemerken. Es reichte mir um zu erkennen, dass ich eben doch etwas tun kann. 

In diesem Moment kam unsere Lehrerin nach draußen und beendete die Situation. Mehr passierte nicht, aber trotzdem hat sich an diesem Tag einiges geändert. Ich kann nicht behaupten, dass ich von einem Tag auf den nächsten ein anderer Mensch wurde. Das geschah langsam, aber mit jedem mal, bei dem es mir gelang mich selbst oder jemand anderen zu verteidigen, wurde ich eine Spur selbstbewusster, eine Spur mutiger. Und je selbstbewusster und mutiger ich wurde, desto schwieriger wurde es für diese Kinder, mir etwas anzuhaben. Bis heute habe ich einen unglaublich starken Beschützerinstinkt und Gerechtigkeitssinn. Wenn ich später während meiner Zeit auf dem Gymnasium Mobbing in den unteren Klassen mitbekommen habe oder von Kinder deswegen angesprochen wurde, wenn Freunde von mir untereinander Streit hatten oder Kollegen von mir, dann fiel und fällt es mir unheimlich schwer nichts zu tun. Genau so geht es mir bei Vorurteilen oder dummem Gerede gegenüber Fremden oder bestimmten Personengruppen. Ich mische mich oft in Dinge ein, die mich eigentlich nichts angehen. Weil sie mich eben irgendwie doch etwas angehen. Been there. Done that. 

Da war es eigentlich kein Wunder, dass ich irgendwann beschlossen habe Pädagogik zu studieren. Ich möchte mit Menschen arbeiten. Ich möchte ihnen dabei helfen, Konflikte zu lösen, die sie selbst für unüberwindbar halten und zwar indem ich ihnen helfe sich selbst zu helfen. Deswegen wäre es auch mein absoluter Traum irgendwann Therapeutin zu werden. Und bis dahin gibt es unheimlich viele andere Dinge, die ich als Pädagogin tun kann. 




Ich glaube ich wäre nicht der Mensch der ich heute bin, wenn meine Schwester nicht wäre. Sie war das ultimative Geschenk meiner Eltern an mich. Eine große Schwester zu sein, mit all den Gefühlen, die dazu gehören- der Angst, der ständigen Sorge um die andere, der Eifersucht, aber vor allem dieser unheimlich starken Verbindung und Liebe- hat meinen Charakter mehr geprägt, als alles andere. Weil sie mir beigebracht hat, dass es Menschen und Dinge gibt, für die es sich lohnt sich einzusetzen, auch wenn man manchmal viel dafür riskiert. Auch wenn man manche Kämpfe verliert oder gar nicht erst gewinnen kann. 


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2 Kommentare

  1. Ein bewegender, ehrlicher und toller Bericht :). Du hast wirklich Glück mit deiner "kleinen" Schwester :).

    Liebe Grüße

    Kristina :*

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